Einleitungstext:
Wie sehr interessieren sich deutsche Politiker*innen eigentlich für Demokratie, d. h. sowohl in Substanz als auch in Form? Reicht es, daß man regelmäßig zwischen ein paar aufgestellten Kandidaten oder Parteien wählen darf?
Natürlich nicht. Unabdingbar für eine authentische Demokratie sind Bürger*innen, die nicht bloß durch Wahlen nach ihren Meinungen gefragt werden, sondern welche, die durch ihre Wahl die Chance haben, ihr eigenes Leben zu bestimmen. Ihre Wahl muß also wirksam sein können.
Um wirksam zu wählen, müssen ihre Meinungen rational und ausführlich informiert sein. Eine gutinformierte Meinung setzt eine gute Bildung voraus: eine, die auf jeder Ebene den Schülern, Studierenden und Auszubildenden beibringt, neugierig zu sein und Fragen zu stellen. Es sollte ihnen möglich sein, umfangreich die Fakten zu erforschen, sie kritisch zu analysieren, ihre Folgen rational zu berechnen, alternative Möglichkeiten kreativ vorzustellen und sie fachkompetent auszudrücken und zu verwirklichen.
Eine solche Bildung setzt wiederum voraus, daß es ihnen als Kinder von vornherein klar gemacht wird, daß sie den Erwachsenen gegenüber wichtig und wertvoll sind. Zudem sollten sie von den Großen so viel Aufmerksamkeit und Ermutigung bekommen, wie sie benötigen, um in ihren Anstrengungen zuversichtlich zu werden, die Forderungen der Umgebung und der Gesellschaft zu erfüllen, zu beherrschen und zu verbessern. Jedes Kind lernt anders und jedes Kind braucht von den Lehrenden die Anerkennung und den Respekt, um ernsthaft lernen zu können. Das heißt, es benötigt Zuversicht, um Fragen zu stellen und Ressourcen, um gleich Antworten darauf zu bekommen. Ansonsten ist das Klassenzimmer nichts anders als ein überfülltes Kinotheater, wo man hin geht, um sich passiv zu entspannen: mal zuzuhören, mal einzuschlafen, mal ein paar Notizen zu machen, mal einen Kaffee zu trinken, mal mit den Kumpeln zu schwatzen. Lehrer*innen, die nicht in der Lage sind, jeden einzelnen ihrer Studierenden einen andauernden Dialog über das Lehrthema bereitzustellen, lassen sie im Stich.
Genau wie die Einwanderungskrise, zeigt uns die gegenwärtige Corona-Pandemie besonders deutlich, wie Deutschland unter einer Krise leidet, wenn es auch einen Mangel an Arbeitskräften gibt, die hinreichend ausgebildet sind, um die Krise effizient zu lösen – d.h., wegen mangelnder Lehrer*innen und überfüllter Klassenzimmer auf jeder Ebene. Ohne eine gut gebildete Belegschaft in jedem Bereich kann Deutschland keine der gegenwärtigen Herausforderungen erfolgreich verkraften: Klimawandel nicht, Pflegedienst nicht, Fachkräftemangel nicht, Digitalisierung nicht, Wohnungsbau nicht, Armut nicht. Denn die Bürger*innen werden ihrer Fähigkeiten und ihrer Stimme beraubt, einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung ihrer Gesellschaft zu leisten. Der demokratische Prozeß läuft an ihnen vorbei. Dann bedeutet ihre Wahl nicht so viel; und das wissen sie auch. Und dann sind politische Wahlkampagnen nur schlecht gespieltes Theater, und mitzumachen ist bloß Zeitverschwendung.
Wollen das deutsche Politiker*innen? Ist das ihnen lieber so?
Selbstverständlich suchen die Bürger*innen infolgedessen Alternativen am Rand der Gesellschaft aus, die mehr Anerkennung, Respekt, Selbstbestimmung und Antworten versprechen.
Wahlkampagne, 2019; hergestellt 2020-2021. Fassaden Installationen, einmalig; Anstecker, unbegrenzte Auflage; Druckedition Schichtentafel, 10x Auflage. Sammlung der Adrian Piper Research Archive (APRA) Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin.